Sonntag, 4. September 2016

Louise de Vilmorin: Der Brief im Taxi

Was steht nur in dem Brief, den Cécilie, die Protagonistin aus Louise de Vilmorins zauberhaftem Roman "Der Brief im Taxi", verloren hat und deshalb völlig aus der Bahn geworfen wird? Eine Frage, die erst zum Schluss des Buches beantwortet wird. Aber, ob die Antwort der Wahrheit entspricht? Wirklich sicher bin ich mir nicht.

Quelle: Dörlemann

Worum geht es in diesem Roman?
Cécilie ist eine hinreißend unkonventionelle Dame, die in ihrer Bücherhöhle, liebevoll Ali Baba genannt, ihre Tage größtenteils mit dem Schreiben von Artikeln, Reiseberichten und Drehbüchern verbringt. Sie ist verheiratet mit Gustave, einem Bankier, der seine Karriere stetig vorantreibt.
Als Cécilie die Geliebte ihres Bruders Alexandre zum Bahnhof begleitet, rutscht ihr im Taxi unglücklicherweise ein geheimnisvoller Brief aus der Tasche. Und die Geschichte nimmt ihren Lauf. (Quelle: Dörlemann)

Cécilie ist eine Protagonistin, die mir mit den ersten Sätzen schon ans Herz gewachsen ist. Denn Cécilie lacht über das Leben und die Pariser Gesellschaft. Und als Leser lacht man gern mit. Kaum zu glauben, dass jemand, der solch ein herzerfrischendes Gemüt hat und vor Lebensfreude nur so sprudelt, sein Leben an der Seite eines karrierebewussten Langeweilers verbringt. Doch der karrierebewusste Langeweiler, namens Gustave und Ehegatte von Cécilie, war nicht immer so. Als Cécilie und Gustave sich kennenlernten, hatte er noch Träume, war abenteuerlustig und ließ sich von seiner Herzensdame mitreißen. Doch viele dieser Träume waren kostspielig. Ohne die nötigen finanziellen Mittel, war gar nicht daran zu denken, diese zu erfüllen. Also arbeitete Gustave an seiner Karriere. Doch mit steigendem beruflichen Erfolg, nahmen Träumerei und Abenteuerlust ab. 
"'Dein Mann kann nur noch bewerten. Er ist nicht mehr derjenige, den du geheiratet hast. Du warst für die Freiheit geschaffen, als freie Frau wärst du Schauspielerin geworden.'" (S. 14)
Heute denkt er nur noch an seine Karriere und das Geldverdienen. Cécilie jedoch hat sich den Esprit ihrer Jugend bewahrt. Und damals wie heute geht sie mit einem Lachen durchs Leben. Sie nimmt sich und die anderen nicht besonders ernst. Es scheint, als ob sie und Gustave ein Arrangement getroffen haben, das beide ihr Leben leben lässt. Er schraubt an seiner Karriere und sie macht das, wozu sie gerade Lust hat. Gustave liebt seine Frau abgöttisch, auch wenn er sie sich ein wenig seriöser wünscht. In der Gesellschaft anderer, tut sie ihm oft den Gefallen. Sie versteht es, zu repräsentieren und spielt die Rolle, die man von der Ehefrau eines Bankiers erwartet. Oft kann sie ihr Temperament jedoch nicht zügeln, was zu recht unkonventionellen Situationen führt. Das nimmt ihr jedoch keiner übel, ganz im Gegenteil. Ihre Eskapaden werden als originell betrachtet und sie ist damit ein gern gesehener Gast in der Pariser Gesellschaft.
Das Leben Cécilies könnte also so schön sein, wenn die Sache mit dem Brief nicht gewesen wäre.
Der verschwundene Brief wirft sie aus ihrem seelischen Gleichgewicht und man fragt sich, was der Inhalt dieses Briefes ist. Bis zum Ende der Geschichte baut die Autorin Louise de Vilmorin diverse Andeutungen ein. Als Leser hat man einen Verdacht, der jedoch mal bekräftigt und mal verworfen wird.

Von Beginn an hatte ich das Gefühl, mich in einem Stück aus dem Boulevardtheater zu befinden. Die Dialoge in diesem Roman haben einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind geistreich und witzig zugleich. Insbesondere die Gespräche zwischen Cécilie und ihrem Mann haben es mir angetan, da hier ganz besonders der krasse Unterschied zwischen den beiden Charakteren zum Ausdruck kommt. Gustave merkt, dass seine Frau sich auf einmal merkwürdig verhält. Sie baut ein Lügengerüst um den verschwundenen Brief auf, in das sie sich jedoch verheddert. Das macht Gustave natürlich misstrauisch. Cécilie redet sich manches mal um Kopf und Kragen. Und man hat den Eindruck, dass Gustave ausschließlich das glaubt, was er glauben möchte. Er verschließt die Augen vor Cécilies offensichtlichen Schwindeleien und schafft sich somit seine eigene Wahrheit, in der seine Frau ganz gut wegkommt.
"Angesichts dieses vertrauenvollen Mannes, der sich zwar sorgte, aber den Hang hatte, stets nur das Gute zu sehen, das heißt, was für ihn persönlich von Vorteil war, war sie wie vor den Kopf geschlagen." (S. 194)
Diese Tendenz, sich Dinge schön zu reden und seine eigene Wahrheit zu schaffen, scheint dem Zeitgeist der damaligen Pariser High Society zu entsprechen. Die Charaktere, auf die man in diesem Roman trifft, zeichnen sich durch eine Ich-Bezogenheit aus, die ihresgleichen sucht. Man erlebt die Dame, die versorgt sein möchte und daher auf der Suche nach dem Mann für ihr Leben ist - auch, wenn dieser Mann bereits vergeben ist; man erlebt den älteren Mann, der auf der Suche nach einem Jungbrunnen ist und daher keine Skrupel hat, seine Zukunft mit einem Mädchen zu planen, das nur halb so alt ist wie er; man erlebt den Abenteurer, der ohne Rücksicht auf Verluste versucht, bei seiner Suche nach Liebe, Lust und Leidenschaft fündig zu werden. 
Nur Cécilie scheint aus der Art zu schlagen. Zumindest lässt sie ihr eigenes Wohl zugunsten ihres Ehemannes Gustave in den Hintergrund treten.

Louise de Vilmorin betrachtet ihre Charaktere mit einem Augenzwinkern. Sie hat damit eine kleine aber feine Satire auf die Pariser Gesellschaft geschaffen, in der sie übrigens als Adelige selbst zu Hause war.
"Marcelline Doublard-Despaumes hatte jenes Alter erreicht, in dem Frauen erblonden. Sie war üppig und leutselig, liebte Empfänge und Juwelen, Theater und Café crème zu jeder Tageszeit. Ihr Mann ähnelte ihr und schreckte genauso wenig wie sie davor zurück, seinen Reichtum auszustellen." (S. 31)
Der Roman spielt in der Zeit um 1920. Wobei er meines Erachtens auch früher angesiedelt sein könnte. Denn der Sprachstil Louise de Vilmorins hat einen Charme, der durchaus in die Zeit des Belle Epoque passen würde. Der Stil wirkt sehr lebhaft und farbenfroh. Teilweise wählt die Autorin eine sehr schwülstige Ausdrucksweise, die man beim Lesen mit einem Lächeln quittiert. Und es scheint, dass sie sprachlich eine Bewahrerin der Etiquette ist. Ehe ihre Wortwahl kompromittierend wird, greift sie lieber zu einer formvollendeten Umschreibung. Hier ist ein herrliches Beispiel:
Schlafzimmer = "das schattige Zimmer, wo Liebende einander nur finden, um sich zu verlieren"
Fazit:
Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen, da ich mich in eine geistreiche und zeitlose Boulevardkomödie versetzt fühlte. Man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr raus, die Seiten fliegen nur so dahin und man hat leider schneller das Ende erreicht, als einem lieb ist. 
"Der Brief im Taxi" ist für mich ein weiterer Beweis, dass auch Romane, die schon ein bisschen älter sind, durchaus einen ganz besonderen Charme haben können.

© Renie

Der Brief im Taxi von Louise de Vilmorin, erschienen im Dörlemann Verlag (August 2016)
ISBN: 9783038200338


Über die Autorin:
Louise de Vilmorin, am 4. April 1902 in Verrières-le-Buisson bei Paris geboren, begegnete während ihres Literaturstudiums sie Antoine de Saint-Exupéry und verlobte sich mit ihm. Louise de Vilmorin entstammte dem französischen Adel, was ihr erlaubte, im Stammschloss der Vilmorin, dem Château de Verrières-le-Buisson, führende Künstler ihrer Zeit zu versammeln. Ihr langjähriger Lebensgefährte André Malraux regte sie zum Schreiben an, und in der Folge entstanden nicht nur die Histoire d’aimer, sondern auch die Romane Julietta, La lettre dans un taxi und Les belles amours sowie mehrere Gedichtbände. Bekannt wurde sie vor allem mit ihrem Roman Madame de …, 1953 von Max Ophüls verfilmt. Louise de Vilmorin starb am 26. Dezember 1969 an ihrem Geburtsort. (Quelle: Dörlemann)